KEYNER NIT
Der Hunger, hier und jetzt, ist weitgehend verdrängt: man is(s)t
übersättigt. So richtet sich unsere Gier auf
Sekundärziele: wir träumen von Geld, Karriere,
Feinschmeckerlokalen, Liebe, Sex, Information, Kult und Kultur. Oder
anders, spätbarock-wollüstig ausgedrückt wir sind
„L’homme machine“. Immerhin: Kannibalismus ist
seltener geworden... Dennoch sitzt uns die Angst im Nacken! Denn
völlig gefahrlos ist der reale Hunger der anderen ja auch nicht
gerade! Und: Wie rasch werden die zugeschütteten Abgründe des
Menschen aufbrechen, geht uns erst einmal das Oel aus? - Werfen wir
also einen Blick aufs Gestern und Morgen, auf diktatorische und
anarchische Zustände, auf einen allgegenwärtigen Hunger und
schlitzohrige „Demokratisierungsversuche“, wo hehre Kunst
und erhabene Gedanken nur noch in Träumen eine Rolle spielen.
Ueberzeichnete Macht- und Raffgier, Sehnsucht nach lüsterner
Ausschweifung oder romantischer Liebe, künstlerische
Geltungssucht, Hunger und schlichter Ueberlebensdrang sind die
Triebfedern eines Szenarios auf zwei Ebenen.
So ist KEYNER NIT einerseits ein derbes und deftiges Scherzo, ein
groteskes Märchen aus einem fiktiven Pseudo-Mittelalter, wo
Hungersnöte und die Constitutio Feudis das Leben bestimmen und wo
feine Zivilisationsschichten zusehends zerbröckeln. Es
erzählt von vertrauten Gewohnheiten in alten Zeiten: dem Hunger
und dem Fressen, der Anarchie und dem Gottvertrauen, der Lust und der
Moral. und davon, wie die Herrschaft sich teils selbst verzehrt, teils
hinrichtet, teils selbst(-)mordet, so dass ein System zerbricht, bevor
es überhaupt errichtet werden kann. Ein nahezu anarchisches Ende
schreibt fest, „dasz keyner nit das Sagen hat!“
Auf dieser Ebene treten auf: Ein Marconte (weder Marchese noch Conte),
ein frisch verehelichter sagenhafter Emporkömmling, mit
unwarscheinlichen drei Eyern. Vargina, sein ihm angetrautes und ewig
unbefriedigtes Weib, und allergeliebteste Dochter des Königs.
Aufmüpfige Untertanen, ein paar heruntergekommene Soldaten, sowie
Frater Kapuzo. Als frisch gebackener Lehensherr will der Marconte nach
langem und entbehrungsreichem Herumirren sein halb verfallenes
Erbschloß beziehen und die Bauern mit Abgaben pressen. Alle haben
Hunger, nicht nur auf ordinäre Schweinswörste... Doch der
Marconte und sein Gesinde haben die Rechnung ohne Migone gemacht, den
bauernschlauen Anführer der Dörfler.
KEYNER
NIT zeigt uns ein ganz anderes Mittelalter, mit Rittern als
Jammerlappen, Pfaffen als Fahnenschwingern der Herrschaft und Bauern
als Schlaubergern. Und in einem handelt dieses anarchische Szenario
auch von unseren Zeiten: Alle wollen an die Macht, aber keiner nimmt
sie ernst...
KEYNER
NIT ist aber auch ein Traumstück: Es wird geträumt von
unerfüllbaren Wünschen und existenziellen Äengsten.
Phantasiert wird vom anderen Ende des Hungers, d.h. von unendlich
exquisiten Leckerbissen oder davon, wie sich der Meisterkoch Gaston
Ouralphe in seiner Gourmetküche mittels seiner Kunst vor den
Klauen des Teufels rettet. Geträumt wird schliesslich noch von
rein geistiger Nahrung: von philosophischen Monologen des
wollüstigen, an einer vergifteten Pastete verschiedenen de Sade
Antipoden, Julien Offray de La Mettrie (1709-51).
KEYNER
NIT ist keine rein narrative Oper: während gewisse Teile zwecks
hyperveristischen Affektballungen bewusst und lustvoll eine
Erzähl-Oper zulassen, werden andererseits auch stehende Bilder
oder oratorienhafte Momente ermöglicht. (Zeitlupe, Zeitstillstand,
Zeitschichtungen)
Neben einem Einheit stiftenden System der Intervallik und der
Farbgebung ist die dezente Verwendung verschiedener pseudostilistischer
Anleihen Konzept! Dies wird u.a. auch durch die Besetzung
unterstrichen, welche veraltete, alte Instrumente imitierende
U-Musik-Instrumente verwendet: Hammond-Orgel und Clavinet.
Der Titel "KEYNER NIT" bezieht sich auf eine Sammlung von Nonsensgeschichten der italienischen Novellenliteratur des vierzehnten Jahrhunderts, der auch die Bedeutung des Worts geprägt hat: eine Sammlung liederlicher, satirischer, heillos verworrener Erzählstücke.
Genaue Besetzung:
KEYNER NIT
kann in ca. 120 Minuten mit 7 Sängern (alle in verschiedenen
Rollen), 7 Musikern (Flöten, Klarinetten, Horn, Schlageug,
Tasteninstrumente, Violine und Violoncello), etwas Elektronik und einem
Dirigenten aufgeführt werden:
Sehr hoher Sopran:
VA 1 1/3 Varginia
AD Adelaide
ein schwarzer Vogel
Koloratursopran (hinter der Bühne)
Hoher Sopran:
VA 2 1/3 Varginia
JM Junges Mädgen (Dörflerin) (+kl. Mundharmonika)
Tablett-Trägerin
Sopran:
VA 3 1/3 Varginia
ein schwarzer Vogel
Tablett-Trägerin
Dörflerin
Altus/Bariton:
MA Il Marconte de Tripalle Dörfler
Tenor:
FK Frater Kapuzo
GO Gaspard Ouralphe
UF Ulfredo Dörfler
ein schwarzer Vogel
Bariton:
MI Migone (Dörfler)
TE Teufel
Bariton:
LaM Julien Offray de La Mettrie
MF Manfredo
Die
Instrumentalisten spielen neben ihren Hauptinstrumenten auch
„Nebeninstrumente“. Hier die vollständige Liste:
Flöte: C-Flöte (mit h-Fuss), Piccolo,
präparierter Dudelsack (c, fis), 2 präparierte
Blockflöten, hölzernes Metronom, Bahu (chinesische
Flöte), Stimme, Bass-Flöte in C (klingt eine Oktave tiefer
wie notiert, sollte auch auf einem Ständer montiert sein. Zudem:
Gummizüge zwecks Schliessen der Klappen), Schreckschuss-Pistole
(mindestens 6 Schuss), Lotos-Flöte (ca. e2-e4), Brummtopf (von
Schlagzeuger ausleihen)
Klarinette: Klarinette in B, Bassklarinette, Alt-Saxophon in Es, grosse Trommel (bei Schlagzeug, S. 184ff)
Horn: Horn, grosse Trommel bei Schlagzeug (S. 40-42), Snare-Drum mit zwei Besen, Mundsirene, elektronisches Metronom (tonlos)
Schlagzeug: ein kleines und ein grosses Becken
(auch mit „Sizzle-Kette“), grosse Trommel, kleine Trommel
(mit Schnarrsaiten), Tamtam, einzelne Röhrenglocken (d1, e1, fis1,
cis2), 6 Cow-Bells (cis1-fis1), 17 Ballone + Nadel-Schlägel,
Mundsirene, Tamburin mit Schellenkranz und Fusspedal,
Konservendosen-Chimes, 3 hängende grosse Konservendosen, Triangel,
Vibraphon, 2 Brummtöpfe (einer für den Flötisten),
Knochen oder Holz (um mit „kracks“ zu zerbrechen),
spezieller Designer-Schwingbesen-Schlägel, Spiel im Innern des
Flügels, Beckenpaar (unteres Becken waagrecht auf Ständer
montiert, mit dem anderen Becken von oben dagegen schlagen.), 2
handgrosse, flache Flusssteine (Reibgeräsch), kleine
Mini-Plastik-Rätsche, ev. Hi-Hat (S. 65), Tringel, lange Rute
(Windgeräusch), Guiro (mit Kreditkarte), Metal-Chimes,
Glockenspiel (mit Pedal: c2-c5), 2 Peking- Operngongs (ca. dis2 + e2),
2 Styropor-Platten und Sandpapier (Reibgeräusche), 2 Plektren, 1
Steeldrum, sehr kleines chinesisches Handbecken mit Samtgriff,
Bogenhaare im Klavier, Snare Drum und 2 Besen für den Hornisten,
altes Grammophon (+Schellack-Platte), Federkiel, Vibratone (zu hohes
es“)
Tasteninstrumente: Flügel, Hammond a100
mit Lesley, Hohner Clavinet D6 (ab 3. Akt mit zwei mikrotonal
umgestimmten Tönen: a1 Viertelton tiefer, g1 Viertelton
höher) mit Yamaha Effektgerät (Magicstomp), Verstärkung
und Volumenpedal, Melodica mit Blas-Schlauch (f-f3), kleine
Schamanenschelle mit hartem Schlägel, kleine Mundharmonika in
C-Dur (Hohner „Little Lady“), 2 kleine Keile (zwecks
Arretierung von Orgeltasten), Kleiderbürste (mit leicht gerundeter
Holzrückseite), Spieldose (mit Kontaktmikrophon verstärkt und
auf das Clavinet geklebt: mit einer Hand drehend die Knacklaute und
Töne erzeugen.), hartes Plektrum, Bogenhaare (ohne Bogen)
Violine: Violine, Stimme (Hahn), Plektrum,
Hoteldämpfer, 1 Bongo-Paar (zwischen Vl. Und Vc. positionieren, da
es von beiden bespielt wird), Guiro + Kreditkarte (von Perc.
ausleihen), kleiner Schrill-(Alarm-)Spray (ca. f3), kleine
Mundharmonika in C
Violoncello: Violoncello, Guiro + Kreditkarte
(von Perc. ausleihen), Stimme (Kuh), Plektrum, 1 Bongo-Paar (zwischen
Vl. Und Vc. positionieren, da es von beiden bespielt wird)
Zusatzinstrumente für die 7 SängerInnen:
Ulfredo und Manfredo: 2 grosse und 2 kleine Marakas Dörfler: 6 Tamburine ohne Schellenkränze; ev. mehrere Spieldosen (S.222)
Einfache Elektronik: Einspielungen von Geräuschen und Verstärkungen.
Mögliche Orte und Zeiten:
Castello de Tripalle (Tibertal, fiktives Mittelalter), eine
Gourmetküche (Paris: spätes 19.Jahrhundert) und ein soeben
beendetes Gelage (Potsdam: 11.11.1751), sowie Traumsequenzen.
Die Quellen des Librettos, zusammengestellt von Mathias Steinauer:
1) der roter Faden: imaginäre und destillierte Szenen aus Luigi
Malerbas‘ pseudo-mittelalterlichem „Pataffio“. (in
der Uebersetzung von Moshe Kahn)
2) zu Traumsequenzen verarbeitete philosophische Textfetzen von J.O. de
la Mettrie „Die Maschine Mensch“ (1747), „Die Kunst,
Wollust zu empfinden“ (August,1751), sowie „Le petit homme
à longue queue“ (Oktober,1751)
3) quasi faustische Dialogfragmente arrangiert zu Traumsequenzen aus
„Der grösste Koch von Frankreich“ von Stefano Benni.
(aus: Die Bar auf dem Meeresgrund: Unterwassergeschichten)
Das Figurenkabinett:
Il Marconte de Tripalle, Belloculus de Cagalanza
(Altus, zuerst Bariton) Emporkömmling, frisch verehelicht mit
Varginia. Er ist abgemagert und immer hungrig, später kastriert.
Ein übler Machtmensch. Als neuer Lehensherr will er die
halbverfallene Burg in Besitz nehmen und Abgaben pressen. Aber
allmählich dämmert es ihm, dass ihm seine Mitgift „ein
Possessionibus von grozsem Scheiszdreck“ beschert hat.
Musikalische Aspekte: Sein Instrument sind die
Flöten (zuerst der präparierte Dudelsack). Sein Intervall,
weder Quinte noch Quarte: der Tritonus.
Varginia, die Marcontin (3 Sopranistinnen)
Königstochter,soeben getrautes, ewig unbefriedigtes Weib. In ihr
potenziert sich das Verlangen (drei Frauenstimmen!). Ueberaus grosse
Leipesfülle.
Musikalische Aspekte: Aus ihr singen drei z.T. extrem
hohe Stimmen: eine Sängerin ist sichtbar (Kopf), die zwei anderen
singen sind versteckt in ihren „Brüsten" drin. „Canto
grasso“, geil und fett, durchzogen mit stöhnendem Atem und
fliessenden Vokalumfärbungen. Ihre Instrumente: das Horn und das
Cello (Tristan-Sehnsüchte). Ihr Intervall ist die kleine Sexte.
Migone von Speckackio (Bariton)
Schlitzohriger Anführer der Bauern und Hundebesitzer
Musikalische Aspekte: sein Instrument sind die Klarinetten, sein Intervall ist die Quarte.
Frater Kapuzo (Tenor)
Ein Pfaffe im Dienste des Marcontes. Eigentlich füllig, trotzdem Hunger leidend.
Musikalische Aspekte: sein Instrument ist die (Hammond-) Orgel, sein Intervall: die Quinte.
Junges Mädgen (Hoher Sopran)
Dörflerin;
Musikalische Aspekte: ihr Instrument: Melodica; ihr Intervall: die grosse Sekunde
Adelaide (Sehr hoher Sopran)
Frater Kapuzos‘ erotische Erscheinung im Traum
Musikalische Aspekte: ihr Instrument: das Glockenspiel; ihr Intervall: die kleine Sekunde
Ulfredo und Manfredo (Tenor und Bariton)
Oberste Waffenkämpfer des Soldatentrupps. Ein Liebespaar. Wenn sie
singen, sind sie unsichtbar: Ihre Stimmen können also mit den
vorhandenen Sängern besetzt werden. Sind sie sichtbar auf der
Bühne, sollen sie stumm von Musikern gespielt werden.
Musikalische Aspekte: ihr Instrument: die kleine Trommel und das Vibraphon.
Gaspard Ouralphe (Tenor)
Als ehrgeiziger Küchenchef des Bon-Bon (*****) gilt er manchen als
der beste Koch von ganz Frankreich. Er ist klein und rund. Mausaugen,
Stirnfalten, kurzer gegabelter Kinnbart. Haare in Kaviarton,
brillantiniert. Auf dem Kopf: Kochmütze. Er trägt Weiss, bis
auf einen Seidenschal mit aufgedruckten Steinhühnern. Dazu
Tanzschuhe.
Musikalische Aspekte: sein Instrument ist das Klavier.
Sein Intervall: die kleine Septime. Er hört gerne „Ombra
leggiera“ aus der Oper Dinorah von Meyerbeer.
Der Teufel (Bariton)
Zuerst ist er ein erhängter Hund. Dann erwacht er zu neuem Leben
und verwandelt sich: unter den Hinterläufen tauchen schwarze
Lackschuhe hervor. Schwanz. Rote Samthose. Rubinring. Schwarzgelockt.
Schnauzer und Kinnbart. Wenn er lächelt: was für Zähne!
Musikalische Aspekte: sein Instrument ist die Violine. Sein Intervall ist die (verminderte und übermässige) Oktave.
Julien Offray de La Mettrie (Bariton)
Französischer Arzt und Philosoph (1709), Antipode von de Sade.
Einer der meist geschmähten Denker der französischen
Aufklärung. Seine „scandaleusen“ Schriften wurden
verboten, konfisziert und verbrannt. Er starb am 11.11.1751 an einer
vergifteten Trüffelpastete.
Musikalische Aspekte: sein Instrument ist das Clavinet. Er entwirft Intervallsysteme.
Sowie: Drei schwarze Vögel, ein Frommer, ein toter Soldat, Dörfler, zwei Tafelträgerinnen, ein Hund, Marionetten...